Abris (Felsschutzdächer)

Reinhäusen: Abri im Bürgertal
Reinhäusen: Abri im Bürgertal
Wie beispielsweise Höhlen gehören auch Felsschutzdächer, naturgebildete Verwitterungserscheinungen in felsgeprägten Berglandregionen, zu den archäologischen Stätten, die heute noch in dreidimensionaler Form und bis zum Dach erhalten eine unmittelbar erlebbare urgeschichtliche Befundsituation darstellen. Dies gilt in besonderem Maße für die älteren Phasen der menschlichen Kulturgeschichte, für die Phasen der Jäger und Sammler (Wildbeuter) des eiszeitlichen Paläolithikums sowie des Mesolithikums.

Abri an der Hohen Leuchte im Reinhäuser Wald
Abri an der Hohen Leuchte im Reinhäuser Wald
Im Buntsandsteingebiet des südlichen Leineberglandes zwischen Heiligenstadt, Göttingen und Nörten-Hardenberg ist die größte zusammenhängende Gruppe von Felsdächern in Mitteleuropa vorhanden. Diese auch als Abris (von frz. abri, Schutzdach, Unterstand) bezeichneten Plätze finden sich oft auf engstem Raum zusammenliegend in den schluchtartigen felsigen Tälern zwischen dem Leinetal und dem Eichsfeld. In einem geografischen Gebiet - vorwiegend des Landkreises Göttingen (Südniedersachsen) - von rund 30 km Länge von Nord nach Süd und 6 bis 10 km Breite sind hier bis heute rund 1600 Felsdächer erfasst. Im Rahmen eines Erforschungsprogrammes der Archäologischen Denkmalpflege des Landkreises Göttingen, das 1979 begann und bis 2001 andauerte, haben unter Beteiligung einer Vielzahl von Naturwissenschaften stichprobenartige Profilsondagen und Testgrabungen stattgefunden. Diese sollten Aufschluss darüber geben, ob die Abris in ur- und frühgeschichtlichen Zeiten von Menschen aufgesucht wurden. Das Projekt fand seinen Höhepunkt in einer von 1988 bis 1990 durchgeführten Gesamtausgrabung eines überdachten Abriraumes am Bettenroder Berg bei Reinhausen südöstlich von Göttingen.

Das Ergebnis der Forschungen besteht in der Erkenntnis, daß an ca. 50 % der Plätze mit archäologischen Spuren zu rechnen ist. So sind häufig Fundschichten im Untergrund erhalten, die sich entsprechend ihrem archäologischen Alter auch in Serie übereinander abgelagert haben können. Das zeitliche Spektrum reicht von der mittleren Altsteinzeit über die Hauptphasen der jüngeren und späten Altsteinzeit, die Mittelsteinzeit sowie die schon mit bäuerlichen Kulturen repräsentierten Epochen der Jungsteinzeit, Bronze- und Eisenzeit sowie das Mittelalter. Die zumeist ungestörten Schichtverhältnisse der Sedimentablagerungen von der letzten Eiszeit bis heute führen ebenso wie die vorgefundenen Erhaltungsbedingungen für Besiedlungsstrukturen wie z. B. Herdstellen, Gruben und Steinplattenpflaster zu einer Einschätzung als herausragende archäologische Kulturdenkmale.

Abri Bettenroder Berg IX
Abri Bettenroder Berg IX
Die Sedimentlagen unter den Felsdächern erreichen bis über drei Meter Mächtigkeit. Hier haben sich während der Weichseleiszeit nach und nach Ablagerungen von frostzersprengtem Steinschutt, windangewehtem Löß und Flugsand angesammelt, und seit Beginn der Nacheiszeit bis heute wurden Versturzsteine und vor allem der vom Fels abwitternde Sand abgelagert. Unter einer Anzahl von Abris hat sich im späteiszeitlichen Niveau auch eine zwischen 5 bis 30 cm mächtige Lage feinster Vulkanasche (Tephra) erhalten, die auf den Ausbruch des Laacher See-Vulkans in der Eifel vor rund 12800 Jahren - während des Alleröd-Interstadials - zurückgeht und mit dem Westwind über ganz Mittel- und Osteuropa verteilt wurde.

Die Möglichkeiten, diese vor späteren Erosionen weitgehend geschützten Sedimentpakete unter den Felsdächern mit naturwissenschaftlichen Methoden klimageschichtlich zu gliedern, dabei mit eingebetteten datierbaren Fund- und Besiedlungsschichten, machen die Abris für die beteiligten Fachdisziplinen im jeweiligen Wissensaustausch zu lohnenden Plätzen für die Eiszeitforschung. Für die Jahrtausende der durch Jagen und Sammeln gekennzeichneten wildbeuterischen Lebensweise sind solche Konservierungsmöglichkeiten wichtige Informationsquellen zu Aspekten des damaligen Alltagslebens, zum Aussehen eines Schweiflagerplatzes, zur Nahrungsbeschaffung und -bereitung, zur Werkzeugnutzung, zum Abfallverhalten.

Die wichtigsten Ausgrabungen:

Reinhausen, Abri Bettenroder Berg I

Schichtserie vom Jungpaläolithikum bis in die vorrömische Eisenzeit. Wichtigste Befunde: Kulturschicht der Federmessergruppe (Alleröd) unter Laacher See-Tephra mit Rothirschschädel, Resten vom domestizierten Hund, geschlagenen Steinartefakten. - Mesolithische Kulturschicht (frühes Atlantikum) mit Steinartefakten, Tierknochen und Feuerstelle. - Silogruben der älteren vorrömischen Eisenzeit mit Keramik, Tierknochen, Kulturpflanzenresten.

Reinhausen, Abri Bettenroder Berg IX

Abri Bettenroder Berg IX, Profil
Abri Bettenroder Berg IX, Profil
Gesamtausgrabung. Sedimentserie mit Kulturschichten vom Mittelpaläolithikum bis Spätmesolithikum. Wichtigste Befunde: Artefaktserie des späten Mittelpaläolithikums (Keilmesser vom Micoque-Typ). - Kulturschicht des Jungpaläolithikums (Bölling) mit Steinplattenpflaster und Feuerstellen, Steinartefakten, Tierknochen, Steinplatten mit Farbspuren. - Kulturschicht der spätpaläolithischen Federmessergruppe (Alleröd) unter Laacher See-Tephra mit Steinplattenpflaster, Feuerstelle, Steinartefakten, Tierknochen. - Kulturschichten des frühen, älteren und jüngeren Mesolithikums (Präboreal, Boreal, Atlantikum) mit Feuerstellen, Gruben, Artefakten aus Stein und Knochen, Schmuck, Tierknochen, verkohlten Fruchtresten, frühneolithischen Kontaktelementen (Getreidenachweise, Schaf-/Ziege-Nachweise). - Zwei Kindergräber des späten Mesolithikums mit Beigaben.

Reinhausen, Abri Allerberg

Schichtserie vom mittleren Weichselglazial bis zur Neuzeit. Wichtigste Befunde: Fundschichten des Jung- und Spätpaläolithikums mit Steinartefakten und Tierknochen. - Kulturschicht der Jungbronzezeit mit Feuerstellen, Grube, Keramik und Tierknochen.

Reinhausen, Abri Bürgertal V

Kulturschicht der Jungbronzezeit mit Keramik, Tierknochen, verkohlten Fruchtresten. Kultgrube mit Hirschgeweih.

Groß Schneen, Abri Stendel XVIII

Abri Stendel XVIII, Rengeweihstangen, Magdalénien
Abri Stendel XVIII, Rengeweihstangen, Magdalénien
Kulturschichten vom Jungpaläolithikum bis zur vorrömischen Eisenzeit. Wichtigste Befunde:

Fundschicht des Bölling (Magdalénien) mit Steinartefakten, insbesondere zahlreichen Rentierabwurfstangen und Tierknochen (Ren, Wildpferd, Steppenwisent). - Kulturschicht des älteren Mesolithikums (frühes Boreal) mit Grube und Feuerstelle.


Reiffenhausen, Abri Sphinx I

Kulturschicht des älteren Mesolithikums (frühes Boreal) mit Haselnuss-Röstofen, verkohlten Fruchtresten, Steinartefakten und Tierknochen.

Ballenhausen, Abri Mühltal I

Kulturschichtserie aus Jungneolithikum (Bernburger Kultur/Wartberggruppe) und Jungbronzezeit.

Zusammenfassende Literatur in Auswahl:

K. Grote, Die Abris im südlichen Leinebergland bei Göttingen. Archäologische Befunde zum Leben unter Felsschutzdächern in urgeschichtlicher Zeit. (3 Bände) - Oldenburg 1994.

K. Grote, Vom Leben unter Felsschutzdächern. Jäger und Sammler in Südniedersachsen am Ende der letzten Eiszeit. - In: EisZeit. Das große Abenteuer der Naturbeherrschung. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung. Hildesheim und Stuttgart 1999, 223-239.

13. 10. 2001